Aber das Herz…..

Aber das Herz…..

Gleich mehrfach fließen Ströme an die Küste. Urlauber, Feriengäste einerseits, die auch direkt in die Küstenorte mit ihren Autos fahren, und Flüchtlinge, Asylbewerber andererseits, die aus den Erstlagern mit Bussen im ganzen Land verteilt werden. Auch nach Barth, Tribsees, Stralsund, Ribnitz-Damgarten. Das zunehmende Drama mit den Flüchtlingen greift immer mehr ins tägliche Leben ein.

Was ich gesehen habe: Chaos. Hilflosigkeit. Auf Seiten der Ämter genauso wie auf Seiten der Fremden. Mir ist dabei die Sprache der Ämter oft fremder als die Blicke und Gesten der Ankommenden…

Bevor ich das wußte, hatte ich die Idee, ein paar Stunden in der Woche zu helfen, wo es nötig ist. Mit den Flüchtlingen ein paar Behördengänge machen, bei Anmeldungen in Kita, Schule, Krankenkasse, Jobcenter behilflich sein, man ist doch gern ein Gutmensch. Und jemand, der wie ich, Probleme mit dem Ankommen hat, kann sich auch emotional gut hineinversetzen. Warum nicht über die syrische Mutter und ihre Familie hinaus, warum nicht für mehrere? Da scheint es schon Trägerorganisationen und Strukturen zu geben, Honorar ist mir angenehm, also ran…

Ich sage es gleich, es gibt sie nicht wirklich, die Strukturen. Sonst hätte ich nicht plötzlich in einer Situation gestanden, in der ich „nur acht syrische Flüchtlinge, noch ohne Aufenthaltsstatus, vom Bus in Empfang nehmen und in eine Wohnung bringen“ sollte. Dieser kleine Satz und mein Ja dazu kostete mich dreieinhalb Tage Arbeit, ohne dass mir jemand sagen konnte, wer zuständig ist, wer die Verantwortung trägt, an wen sich die Leute in Krankheits- und anderen Notfällen wenden könnten.

Die Organisation arbeitet mit dem Jobcenter zusammen, kommt also erst mit einem Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge zum Einsatz. Sie hat es nur vermittelt. Die Sozialarbeiter im hiesigen Flüchtlingswohnheim meinten, sie seien nicht zuständig, die Leute seien ja separat untergebracht. Das Sozialamt war erstens weit weg, hatte zweitens Öffnungs- und Schließzeiten und war drittens nur für die Geldschecks und Krankenscheinausgabe zuständig.

Da saß ich also, hatte eine Menge Telefonate am Hals mit Jugendamt, Sozialamt, Ausländeramt, zwei Dolmetschern, Wohnungsbaugenossenschaft, Jugendnothilfe, Polizei, eine Wohnungsübergabe samt Klopapier u.Ä. kaufen, fünf Stunden in der Wohnung auf den Bus mit den Menschen warten, alle einweisen in die technischen Geräte wie Herd, Kühlschrank, Waschmaschine, den einen Minderjährigen der Polizei übergeben, weil er zur Jugendnothilfe nach Stralsund gebracht werden sollte, den Weg zum Supermarkt zeigen, am nächsten Werktag mit allen nach Stralsund zum Ausländeramt, Sozialamt, zur Sparkasse fahren, wobei ich das Fahrgeld auszulegen hätte, so die Mitarbeiterin des Sozialamtes.

Am Ende des Tages hatte ich die Krankenscheine der sieben Leute in meiner Tasche – die sollte ich ihnen auch nicht aushändigen, da sonst sofort alle zu den Ärzten laufen würden – und Anmeldungen für die Rundfunkgebühr der Wohnungen. Es wollten auch sofort welche von ihnen zum Zahnarzt, was nicht einfach war, weil dafür ein Extraschein benötigt wird.

Drei von ihnen sind sechs Wochen lang von Syrien über vier hohe Berge zu Fuß nach Deutschland gelaufen, wobei die teuerste Strecke die durch Serbien gewesen sei, wo sie sich alle Nase lang den Weg freikaufen mußten. Sie erzählten, dass sie eine hohe vierstellige Eurosumme in diesem Land gelassen hätten, um nicht im Gefängnis zu landen.

Da die meisten nur hatten, was sie am Leibe trugen, organisierte ich für den nächste Morgen die Öffnung der Kleiderkammer und deren Besuch. Ach ja, die Briefkastenbeschriftung. Gottseidank hab ich dran gedacht; nach zwei Tagen lag ein Brief aus dem Bundesamt für Migration, Außenstelle Nostorf / Horst darin, den sprachlich natürlich keiner verstand… Eine Vorladung des einen, am übernächsten Tag um 9.30 Uhr. Er wolle schon am nächsten Tag fahren, sagte er, die 60€‚¬ Zuggeld mußte er vorstrecken, und im Wald schlafen, damit er pünktlich sein kann.

Als die Fahrkarte gekauft war, mein Mann einen Schlafsack samt Zelt herausgesucht hatte, hieß es kurz vor Abfahrt dann doch AprilApril, der Termin wurde verschoben…

Ich mußte an das alte Flüchtlingsdrama-  „Angst essen Seele auf“ denken. Ist mindestens dreißig Jahre her… Oder an manche Rentner, die vor siebzig Jahren selbst fliehen mußten, und die nun mit Betreuung, Anziehsachen oder Deutschunterricht helfen.

Der Job für ein paar Wochenstunden war plötzlich ein Ehrenamt rund um die Uhr. Das dramatische Chaos um die Asylbewerber auf der einen, die überforderte Bürokratie auf der anderen Seite, an der Schnittstelle ich.

Mein Knoten löste sich bei der netten Leiterin des Asylbewerberheimes hier in Barth. Obwohl auch sie nicht zuständig war, nahm sie mir die Krankenscheine ab, besorgte die Zahnarztscheine, kümmerte sich um die Zugverbindungen des Vorgeladenen und sagte, auch die Anderen können zu ihr kommen, wenn es Probleme gibt… Und das, obwohl sie mit ein paar Mitarbeitern und Helfern gerade ein Chaos beseitigt hatte: Eine serbische Familie, die zwecks Abschiebung auf dem Weg zum Flughafen war, hatte einen Dreckstall hinterlassen. Sechs kleine Kinder, die generell und wochenlang unten ohne in der Wohnung herumliefen, alles fallenließen, was kam, Dreck in der Küche, im Bad… Alle Möbel hätte sie auf den Sperrmüll schmeißen und alle Zimmer desinfizieren und neu bestücken müssen, sagte sie. Woraufhin nun der Anruf der Ausländerbehörde gekommen sei: Suprise, liebe Frau! Die Familie kommt zurück, da hat was mit den Papieren nicht gestimmt, sie werden erst in ein paar Wochen wieder abgeholt! Ach ja, sagte sie, Schulden im Wert von mehreren tausend Euro hätten sie auch gemacht. Die vielen Pakete der Online-Versandhäuser hätten sich bei ihr im Büro gestapelt…

Seitdem sehe ich, dass täglich mehr Sendungen über das Thema Flüchtlinge im Fernsehen laufen, Dokumentarfilme, Nachrichtensendungen, Interviews, Fragen zur Gleichbehandlung von Serben und Syrern beispielsweise. An den oberen grünen Tischen beginnt man jetzt über neue Wege und Lösungen nachzudenken. Ach, denke ich, jetzt schon? Was war das bisher? Ohne die vielen Ehrenamtlichen, die dafür neu gegründeten Vereine, die rüstigen Rentner innerhalb und außerhalb der Kirchen usw. würde doch schon alles zusammengebrochen sein. Aber die Freiwilligen schaffen es nicht mehr, Helfenwollen allein reicht nicht, es braucht dringend Strukturen, neue Stellen, Verantwortlichkeiten, Verantwortung …

Als ich den Syrern sagte, dass die meisten deutschen Helfer ohne Geld arbeiten, wollten sie es mir lange nicht glauben. Germany ist reiches Land! sagen sie. Warum hier arbeiten ohne Geld?

Und sie schütteln verwundert den Kopf, verstehen das Land nicht, das ihnen doch sofort, wenn sie ins Auffanglager kommen, einen Ausweis und Taschengeld gibt, später Sozialhilfe usw. Sie haben ihre Vorstellungen von diesem Land, das so groß und so reich ist. Und da passen so einige Dinge eben nicht rein: Menschen, die über ihnen im Plattenbau wohnen, laut grölen, Flaschen und Kippen vom Balkon schmeißen, oder Leute, die keinen Job und genau solch kleine Wohnungen und wenig Geld wie sie selber haben, oder eben Leute, die in Kleiderkammern arbeiten oder Flüchtlinge in ihrem privaten Auto nach Stralsund oder Ribnitz zu den Ämtern fahren, und das aus reiner Nächstenliebe, ohne zu wissen, dass es dafür mal eine Honorarmöglichkeit geben könnte.

Während vor meinem Fenster die Menschen quer über den Markt in Richtung Hafenfest laufen, das jedes Jahr im Sommer stattfindet, mit Essen Trinken Rummel Tanz und Riesenfeuerwerk, ein paar Meter weiter im Theatergarten mehrmals in der Woche „Die vier Musketiere“ auftreten, mit kleinen Kämpfen und ebenfalls Gesang und Tanz, während die nächste Hitzewelle schon auf der Isobarenkarte sichtbar ist und die Straßen und Strände füllen wird, sehe ich gleichzeitig Menschen nach Deutschland strömen, zu Fuß, auf Schlauchbooten, in geschlossenen Lastern, in Zügen, Autos. So viele, die nicht ankommen. So viele, die ankommen.

Der Kopf sagt angesichts dieser Gegensätze vielleicht, mein Gott, ganz schön krass,…

…aber das Herz …..

„Liebe ist die Essenz des Himmels“, sagt der amerikanische Arzt und Nahtodforscher Dr. Eben Alexander.

Wie aber gelingt es mir, das Ganze mit Liebe anzuschauen?

Andrea Jennert

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