Zehnter November
„Robert saß auf Merles Schoß und kaute an seinem Frühstücksbrot. Beide waren schon angezogen und hatten doch nichts vor. Merles Unterricht begann erst um 11 Uhr. Sie stellte das kleine Radio an und hörte keine Musik, nur Stimmen:
Wohin gehen Sie jetzt? – Arbeiten natürlich! – Obwohl Sie die Nacht durchgemacht haben? – Ick bin zwar müde, aba det wird wohl jeda vastehn, oda? – Und Sie? Wo kommen Sie her, was haben Sie jetzt vor? – Ick war uffm Kudamm, een Bierchen trinken, oda och zwee, jetz muß ick zurück, aba heute Abend komm ick wieda! – Und Sie? Wo wollen Sie hin? – Na den Osten ankieken! Hab die janze Nacht Bier ausjeschenkt! Jeschenkt im wahrsten Sinne, wa!
Merle biß vorsichtig von ihrem Brot ab und wartete auf Musik. Robert war satt, er kletterte von ihrem Schoß, lief durch die Küche, öffnete die Kühlschranktür, Nein! rief Merle, Nein! Robert! und schlug die Tür wieder zu. Robert rannte ins Kinderzimmer, Merle sah nach, ob die anderen Türen geschlossen waren, ob keine Schere zu nahe für ihn lag, setzte sich wieder auf den Küchenstuhl.
Hier ist RIAS 2 mit Nachrichten. In der vergangenen Nacht hat die DDR auf eine Presseerklärung von Günther Schabowski hin die Mauer geöffnet, Hunderttausende Berliner nutzten die ersten Stunden der Freiheit, um einen Blick in den anderen Teil der Stadt zu werfen. Dabei ist die Fluchtwelle kleiner als erwartet.
Merle legte ihre Hände um die Tasse mit Tee. Der war noch heiß. Hast du das gehört. Mauer offen. Das geht doch gar nicht. Das geht doch nicht! Sie suchte einen anderen Sender. Berliner Rundfunk: das Gleiche. Sender Potsdam: das Gleiche. Sender Frankfurt/Oder: das Gleiche. SFB 1: das Gleiche.
Sie ging ins Wohnzimmer, sah aus dem Fenster auf die Straße. Nur drei Autos standen dort. Gegenüber zwei Frauen mit Mantel und Handtasche. Sie gingen schnell. Zehn nach würde die Bahn fahren. Dahinter ein Junge mit Schulmappe. Vor dem Fleischgeschäft stand das Lastauto, zwei Männer mit Wattejacken und Gummischürzen nahmen Knochenteile mit Fleischresten aus der Metallkiste und warfen sie auf den Hänger. Sie hörte es jedes Mal krachen, obwohl die Fenster geschlossen waren…
Niemand tanzte auf der Straße, keine leeren Sektflaschen lagen irgendwo, niemand warf die Arme hoch und rannte das Kopfsteinpflaster ab. Das mußte ein Hörspiel gewesen sein!…
Die Straßenbahn fuhr, die Kinderkrippe hatte auf, es gab Milch zu kaufen und Brot, die Geschäfte waren offen, die Schuhläden, die Blumenläden, und Merle ging in ihre Schule. Sie bewegte sich vorsichtig, als könnte sie mit dem nächsten Schritt eine Seifenblase zertreten. Die Schulklingel ging, eine Klasse schlenderte hinüber in die Turnhalle, einige Schüler gingen ohne Taschen vom Gelände, sie würden im Café Heider gegenüber Kuchen kaufen, ohne Erlaubnis eines Lehrers.
Es war nichts anders.
Ihr seid ja alle da, sagte sie zu den Musikern im kleinen Lehrerzimmer. Du bist ja auch da, sagte Ruprecht. Fehlen Schüler von uns? Bis jetzt nicht, sagte Regina, die wollen alle nach dem Unterricht nach Berlin fahren. Heute ist Freitag, sie wollen mit dem Begrüßungsgeld in eine Disco.
Hast du schon Unterricht gehabt, fragte Merle Ruprecht? Natürlich, sagte er, und ich habe nicht über die Grenzöffnung diskutiert. Dafür werde ich nicht bezahlt. Das Beste in dieser Lage ist Unterricht. Meine Schüler sind dankbar dafür.
In der ersten großen Pause, sagte Regina, kam ein Schüler in die Schule, direkt aus Berlin, hat die Nacht durchgemacht, eine Dose Bier mitgebracht, ordentlich geschüttelt und das gesamte Vestibül samt Schüler vollgespritzt! Der hat seinen Verweis schon weg!
Merle wußte nicht, wer das war, aber sie beneidete ihn. Da hatte einer reagiert…“
Andrea Jennert. Aus dem Buch „Inselkinder“
2 Gedanken zu „Zehnter November“
Ach Merle… Und Robert ist nun schon selbst Vater.
Was sie wohl noch so erwartet?
Es war eine unglaublich aufregende Zeit, jeden Tag verbrachte man einen Zentimeter über dem Erdboden. Zugleich war irgendwie alles möglich – auch das Unmögliche.
Wir sollten denen, die nach uns kommen, vor allem sagen, wie erschrocken wir über uns selbst waren, dass wir nicht DENKEN konnten, die Mauer könne endlich sein. Nein – sie war unendlich, in unseren Köpfen, weil man es da so hinein betoniert hatte. Und was ist heute in unseren Köpfen unverrückbare Wahrheit? Wessen Wahrheit und mit welchem Ziel?
Ach Merle… Und Robert ist nun schon selbst Vater.
Was sie wohl noch so erwartet?
Es war eine unglaublich aufregende Zeit, jeden Tag verbrachte man einen Zentimeter über dem Erdboden. Zugleich war irgendwie alles möglich – auch das Unmögliche.
Wir sollten denen, die nach uns kommen, vor allem sagen, wie erschrocken wir über uns selbst waren, dass wir nicht DENKEN konnten, die Mauer könne endlich sein. Nein – sie war unendlich, in unseren Köpfen, weil man es da so hinein betoniert hatte. Und was ist heute in unseren Köpfen unverrückbare Wahrheit? Wessen Wahrheit und mit welchem Ziel?