Kreuz und quer zur Quelle

Kreuz und quer zur Quelle

Kreuz und quer stehen mir die Worte, Fragmente aus Buchstaben, die nur zögernd ihren Sinn freigeben. Ich finde den einen oder anderen Buchstaben dazu oft erst aus anderen Worten, die sich senkrecht darüber legen. Einsortieren des Vorhandenen. Irgendwann am Ende ergibt alles einen Sinn. Manche Worte bleiben unverstanden. Ich weiß nicht, ob es sie wirklich gibt. Aber sie stehen da, behaupten es von sich. Der häufigste Buchstabe ist das „E“. Selten gibt es „Y“ oder „Q“.

Es ist Urlaub. Nach Jahren wieder Dänemark. Zum ersten Mal ganz ohne Kinder, ohne Hund. Reif für die Insel, die kaum zehn Kilometer lang und fünf Kilometer breit ist. Viele Sandhügel mit Gras, Erika, kleinen Kiefern, Birken und Eichen, die nur ein paar Meter hoch sind. Ein Südstrand gegenüber der Nordküste von Sylt, viele Fußballfelder breit. Bei Ebbe noch breiter. Mitten in der Hochsaison ist Alleinsitzen an riesigen Stränden möglich. Stapfen durch Rieselsand mit tausenden Muscheln, die Latschen ausschütteln nach drei Schritten. Nur wenige gehen dorthin, es gibt den schöneren Strand an der Westseite. Breit und lang und fester Sand, der das Laufen leichter macht. Das Wasser unerwartet warm für Nordsee. Ein stetiger Wind zieht Drachen gleichmäßig übers Land. An langen Schnüren fahren Kytebuggies hinterher, die aussehen wie große Tretautos mit behelmten Fahrern. Und der Himmel ist tatsächlich blau, einfach nur blau. Hellblau, tiefblau, azurblau, zartblau, mit leichten Haufenwölkchen, die schnell darunter her ziehen.

Ich sitze windgeschützt in der alten Strandmuschel, die noch mit dünnen Stäben aufrecht und mit Sandhaufen am Ort gehalten wird. Es ist so viel Zeit da, die Muschel kann in Ruhe auf- oder abgebaut werden.

Zeit haben, der größte Luxus, der nach dreiunddreißig Jahren mit Kindern, Hunden, Häusern, Umzügen… wie ein Loch sich in der Erde auftut, und ich falle so schnell so tief, dass es in den Ohren rauscht. Ebenfalls unerwartet. So lange ersehnt für Projekte wie Bücher und Bilder und jetzt ist es einfach nur leer. Die neue Art zu lernen, jetzt, hat zunächst mit Leere zu tun. Diese aushalten. Nicht gleich wieder zustellen, zuarbeiten, zumauern. Die Angst aushalten, dass da nichts mehr kommt, dass alles Wichtige vorbei ist, dass das Gewollte nicht erreicht ist und vielleicht nie erreicht werden wird. Weil nun auch die Kräfte andere sind. Das Ausruhen länger dauert. Das Gesicht nicht mehr so schön ist. Die Beine sowieso, vom Bauch gar nicht zu reden.

Die Kräfte sortieren wie die Worte. Mit Buchstaben beginnen, kleine Schritte gehen. Raum für Abschiede lassen. Die Alten in der Familie. Raum für Gespräche lassen, für Hilfen. Die schwerkranken Freunde im Kreis. Nicht jeder schafft diese Kurve, die eine Umkehre ist. Herausforderungen lassen, die nicht mehr dran sind, weil der Körper Stop sagt, weil die Richtung eine andere ist. Der Unterricht mit den Flüchtlingen. Die Auftritte. Abschied von Anspruch und Perfektion.

Der Himmel ist perfekt blau. Lange nicht so gesehen. Das Licht so klar. An den Wegen die Blumen sind schlicht. Schachtelhalm, Erika, falsche Kamille, Glockenblumen, Butterblumen. Ein kleiner einfacher Strauß auf einem kleinen einfachen Tisch vor einem kleinen schlichten Haus, das so alt ist, dass das Stroh auf dem Dach längst grau  und die verbeulten Töpfe im Schrank aus Kriegszeiten sind, in denen es unwichtig war, ob die Deckel darauf passen oder überhaupt noch einen Knauf zum Anheben haben. Ein kleiner Fernseher mit Röhren, der noch zu Bildern taugt.

Der rote Nagellack an meinen Füßen wirkt deplaziert, die Schminke bleibt unberührt. Ich schaue mich an, wenn ich am Spiegel vorbei komme. Und wenn alles gut ist, sage ich Ja zu diesem Gesicht, das so ungewohnt ist wie das Zeithaben.

Während ich schreibe, fährt jemand auf breiten Fahrradreifen um die Insel. Was so lange gut geht, bis er zu einer Stelle kommt, wo der Strand geteilt ist. Meerwasser dringt ins Innere der Insel und er muss durch einen Fluss waten. Also zieht er alles Textile aus, trägt nackt sein Fahrrad durch den Fluss auf die andere Seite, geht durchs bauchtiefe Wasser zurück und holt seine Kleidung und den Rucksack, watet wieder in Richtung Fahrrad und hat anschließend kein trockenes Handtuch im Rucksack… Als er nach Stunden zum kleinen Haus zurückkehrt, ist das Essen fertig. Und einen Salat bekommt er auch.

Zur rechten Zeit werden die Worte sortiert sein, werden sie da sein mit ihren Bedeutungen, die zu Geschichten, Farben, Stimmungen werden. Sie werden da sein und fließen, durch meinen Kopf, durch mein Herz, durch meine Arme und Hände, durch meinen silberfarbenen Füller, der zu vielen meiner Haare bereits passt. Und sie werden eine neue Quelle haben, dieses Wort mit dem seltenen „Q“ und den alltäglichen „E“s.

Und ich werde diese neue Quelle mein Zuhause nennen, ein frischer Raum, in dem es sich wohnen lässt. Einfach und schützend wie dies alte Urlaubshaus, nahe am Meer und mit Verbindung zum Festland, in dem der größte Schatz das Zeithaben ist, welches sich mit Leere und dann mit ganz neuen Worten mischt.

A.Je.

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