Alles auf Anfang
Das Jahr hat fröhlich begonnen, mit Sekt, Tanz, Lichtern, Suppe, Torten, Töchtern, Freunden und Goethes Fee im „Jambolaya“, der afrikanischen Cocktailbar am Barther Hafen. Die Inhaberin hat Dreadlocks wie ihre drei Pulis, Lockenhunde wie unserer. Am Markt war es nicht nur um Mitternacht zu laut, die Kanonenschüsse dröhnten vielfach zwischen den Häuserschluchten. Am Hafen hinten war es gut, ein Panorama voller Lichter über der Stadt.
Nun geht ein neuer Alltag durch Straßen und Häuser. Das Licht nimmt wieder zu, die Tage werden länger. Die Jüngste geht zur Schule, die Einzige, die früh aus dem Haus muss.
Links von mir wohnt eine traurige Frau, die nicht weiß, wie mutig und stark sie ist. Nach über vierzig Jahren einer glücklosen Ehe, nach einem Autounfall, den sie knapp überlebt hatte, nach so vielen Jahren ununterbrochener Arbeit, hat sie den Sprung geschafft, hat sie sich und ihr Leben gerettet. Ist sie stolz auf ihre Kinder. Nun hat sie es wieder, ihr eigenes Leben, wenn auch mit Verletzungen und Blessuren, und weiß noch nicht recht, was anfangen damit. Die Freude muss erst wieder gelernt und geübt werden. Wie ein Klavierstück. Jeden Tag etwas. Hübsch ist sie. Und so mutig.
Rechts von mir ein altes größeres Haus mit niemandem drin. Denkmalgeschützt, mitten im Verfall. Aus den schrägen Eingangsstufen und den Dachrinnen wächst es grün. Im vorletzten Jahr hat es einen neuen Eigentümer bekommen. Noch atmet es Ruhe, manchmal stehen die Fenster offen, aber in seiner stillen Art ruft es leise nach Aufmerksamkeit, nach Hilfe. Es war eine Schönheit früher, es hatte Bedeutung, als Brauerei, als Elternhaus, als Heimat von Jemandem, der nun woanders wohnt und Getöpfertes auf den Märkten anbietet. Was wird nun?
Und mein eigenes Haus in deren Mitte, unser Haus – grau. Ein ungeschminktes Hausgesicht zwischen Verfall und farbig Neuem. Der hübsche runde Torbogen, die halbrunden Fenster oben. Schöne Proportionen im dreißig Jahre alten DDR-Putz. Vorn der Markt, hinten Garten. Ich hab es gern, dieses Haus, auch wenn ich mich noch nicht an seine Andersartigkeit gewöhnt habe. Woanders war Zuhause, das Schwedenhaus in Borkwalde, das kleine grüne Schloss. Aber dies hier ist ein guter Ort auch. Wofür genau, das werde ich später wissen.
Im Café am Stadtwall erzählte die Frau mit den langen dunklen Haaren, dass es in Barth vor der Wende viel Industrie gegeben habe. Zuckerfabrik, Betonwerk, Fischverarbeitung, die große Gärtnerei mit über neunhundert Beschäftigten, Schiffswerften. Die Gärtnerei hat noch dreißig Mitarbeiter, eine kleine Werft gibt es am Hafen. Alles andere ist dicht. Nach der Wende wurde alles von Westfirmen aufgekauft, erzählte sie, und kurz danach geschlossen. Die meisten Barther auf einen Schlag arbeitslos. Von Vierzehntausend wohnen noch knapp Neuntausend hier. Wer nicht wegging, dem Geld nachzog, ist mitunter seit fünfundzwanzig Jahren arbeitslos.
Das erklärt einiges, dachte ich. Vor allem diese seltsame Stimmung. Eine Stadt im Schock. Unverstanden von den Zugezogenen. Sprachlos. Wenn es dunkel wird, sagte die Frau, gehen die Barther nach Hause. Trotzdem bietet sie Kultur in ihrem Café: kleine Ausstellungen, Lesungen, Abende mit Rommé und Canasta. Kleine Schnittchen werden dazu geboten. Und gemütlich ist es, jeder sitzt in einem Sessel oder Sofa. Jeder.
Mein Mann ist nun auch jeden Tag da. Wie viele Barther.
Im meinem Garten stehen seit Monaten die Rosenknospen. Sie halten was aus. Halten die Hoffnung aus. Es ist Januar.
Alles auf Anfang.