Nachruf
Es ist einige Wochen her, dass ich mit unserer jüngsten Tochter meinen Vater und seine Frau besuchte. Die ältere Dame war sehr krank. Wir saßen zu viert im Wohnzimmer, und sie sprach darüber, wie es ihr ging. Nur noch ein kleines Etwas aus Haut und Knochen. Aber die Tasse konnte sie noch halten. Später nicht mehr. Ihre hilflos verzweifelte Erzählung. Sie konnte nicht mehr richtig essen. Seit der ersten Spritze im Juni 2021. Übelkeit, Schwindel, Ekelgefühle vor dem Essen, Erbrechen nach dem Essen. Sie ist einfach verhungert. Sehr langsam. Ständig war sie im Krankenhaus. Jemand muss ihr doch helfen können!
Keine Behandlung hat ihr wirklich etwas gebracht. Sie hatte Schmerzen, Hunger, und eine der Schwestern sagte zu ihr, sie seien als Krankenhauspersonal angehalten, solche Wirkungen dieser Spritzen nicht weiterzuleiten. Das wurde ihr erst nach dem Boostern gesagt, und danach ging es ihr so schlecht, dass sie von der Ärztin gefragt wurde, ob sie ins künstliche Koma gelegt werden wolle. Nein, das wollte sie nun auch nicht. Also weinte sie viel. Selbst Morphium half nicht genug.
Es würde nicht mehr besser werden, sagte man ihr. Sie solle sich vorbereiten. Mein Vater mit. Und so fuhren mein jüngster Bruder mit Vater und seiner Mutter, die nicht meine Mutter war, zwei Tage nach dem Geburtstag des Vaters zum Institut und zum Friedwald. Einen Baum aussuchen. Bis zu neun Urnen sind für einen Baum zugelassen, erzählte er mir. Und sie machten noch Scherze und meinten, sie möge einen Baum mit mehreren Leuten nehmen, das sei lustiger für die Canasta-Runde.
Bittere Scherze. Was aber tun? Irgendwie umgehen mit dem Unsagbaren.
Letzten Mittwoch ist sie dann gestorben. Mein Vater rief mich an, als ich gerade mit der Hündin im Wald unterwegs war. „Vor einigen Minuten…“, sagte er. Ich machte mich gleich auf den Rückweg und fuhr zu ihm. Sie lag im Bett und sah sich selber nicht mehr ähnlich. Er hatte ihr eine Kerze angezündet und auf den Nachttisch gestellt.
Sie hatte mit ihren gestrickten Socken, Schals, Stulpen, Dreieckstüchern, Stirnbändern, Decken, Babydecken und Westen allen Kindern und Enkeln die Füße gewärmt, die Stirnen, die Handgelenke, Hals und Körper. Meine Enkel holten, als sie vom Tod der Uroma erfuhren, die alten Babydecken hervor, setzten sich Stirnband und Mütze auf und weinten, denn sie würden sie nun nicht wiedersehen.
Auch ich bin traurig. Sie ist der achte Todesfall innerhalb von gut zwei Jahren in dieser Familie. Und ich denke daran, dass es ja jetzt eine Übersterblichkeit von mehr als dreißig Prozent in diesem Lande gibt. Die Toten müssen wohl vermerkt werden, die Ursachen nicht unbedingt. Auch darüber bin ich traurig. Und ich bin traurig darüber, dass der Vater nun allein ist. Ich rufe ihn an und frage, wie es ihm geht, und er sagt, ach gut soweit. Und er war schon beim Arzt, denn ihn plagt eine Geschichte im Bein, und das Gehen, das Weitergehen, fällt ihm nun schwer. Und weil mir nichts anderes übrigbleibt als gute Worte, versuche ich es mit einem Gedicht für ihn:
Du hast mich vorher nicht gefragt,
du bist einfach gegangen.
Was blieb noch alles ungesagt?
Die Lieder, die wir sangen,
sie hatten schöne Melodien,
ich küsste deine Wangen.
Wir haben uns auch angeschrieen,
das war wie ein Gewitter.
Und später hab´n wir uns verzieh´n.
Es blieben ein paar Splitter.
Die wuchsen in die Seele ein,
so weich, so süß, so bitter.
Das Leben sollt´ zum Leben sein,
hör´ ich die Alten raunen.
Nun sitze ich wie sie allein
auf einer Bank. Mit Staunen
seh´ ich, was alles um mich lebt,
der Park hat Frühlingslaunen.
Das Gras, was aus dem Boden strebt,
das erste Grün an Bäumen,
das Licht sich in die Augen gräbt.
Ich will heut´ von dir träumen.
Ein Vogelzwitschersingkonzert
fliegt mit zu deinen Räumen.
Musik hat immer sich bewährt
Als uns´re Klangtapete,
mein Gruß, der heute zu dir fährt
auf himmlischer Trompete.
Mein Herz ist immernoch zu zweit,
so auch meine Gebete.
Ich weiß nicht, wann ist meine Zeit?
Doch wär´ es wunderschön,
du hieltest schon den Platz bereit,
den neben dir, zum Geh´n,
zum Weitergehen Hand in Hand.
Die alten Spur´n verwehen…
Und immer leichter wird das Band,
mir geh´n die Worte aus,
die Füße tragen mich zum Rand.
Dann komm´ ich auch nach Haus.
A.J.
Ein Gedanke zu „Nachruf“
Liebe Andrea,
ich bin sehr berührt von deinem Nachruf, dieser traurigen Geschichte und diesem wunderschönen Gedicht.
Wie gut, dass du es festhältst, was die Menschen doch nur allzu schnell vergessen und gar nicht so genau wissen wollen. Aber du hast ihren Schmerz gesehen, den einen und den anderen. Und du hältst fest, was die Welt nicht sehen mag.
Danke für dein Sein.
Sylvia