Fünf von Neun
Eine neue Erfahrung. Eigentümlich. Das Treffen vorher am Andachtspavillon im Friedwald war sogar mit Lachen oft durchsetzt. Schwarze Kleidung nicht gewünscht. So kam der Sohn der Verstorbenen in weinroter Hose, weißem Hemd, dunkler Weste. Die Tochter in buntem Shirt und Hose in Hellbeige. Der Witwer, mein Vater, in gedeckten Farben, die Enkel in Dunkel, Hell, in Apricot und Blau.
Anstelle einer Trauerrede gab es Kuchen und Kaffee, und es wurde nett geplaudert wie bei einem Picknick zum Geburtstag.
So war das gewollt, denn die Verstorbene ist an diesem Tage ihrer Beisetzung einmal geboren worden. Vor sechsundsiebzig Jahren.
Nicht meine Mutter, mein Vater jedoch ihr Witwer, ihre Kinder meine Geschwister.
Die Försterin kam mit der Urne und einem ernsten Gesicht. Erinnerte daran, es ist ja doch ein Trauerfall. Auch wenn die Asche bereits drei Monate steht.
Wir gingen durch den Wald, eine freundliche bunte Gesellschaft, die Urne in den Händen des Vaters vorneweg. Immer deutlicher waren Straße und Autobahn zu hören. Lauter Frieden im Friedwald.
Die Stätte am Baum war vorbereitet, die tiefe Grabung mit Tannengrün und Blättern ringsherum geschmückt. Die Försterin stellte die Urne ab, verneigte sich wortlos, ließ dann die Asche der Mutter meiner Geschwister in die Erde gleiten, tat eine Schippe Sand darauf, verneigte sich wieder und trat hinter den Kreis der Familie. Niemand sprach etwas. Das Rauschen der Straße vermischte sich mit dem der Bäume. Musik kam von den Vögeln. Nacheinander traten wir ebenfalls an die letzte Stätte der Ruhe, verneigten uns, taten Sand in die Mitte der Tannenzweige, verneigten uns wieder und traten zur Seite. Keine Blumen, ein paar feuchte Augen. Wortlos, satzlos standen wir noch im Kreis.
Nicht lange. Der Vater unruhig, ging mit dem Bruder hinter den Baum, beide schauten unglücklich auf das Metallplättchen, das an einem Nagel am Stamm hing. Der Name der Mutter war Nummer Neun. Falsch geschrieben. Es fehlte ein t. Die anderen acht Namen unbekannt.
Nimm den Baum mit mehreren Leuten, hatte mein Bruder ihr geraten, als sie sich den Wald mit ihr im Rollstuhl zusammen angeschaut hatten. Da haste immer wen zum Canasta-Spielen.
Jetzt ruht sie in der Runde. Ohne Schmerzen, Luftnot, Übelkeit und diesem elenden Hunger samt Nichtessenkönnen. Seit dieser Spritze. Unter vierzig Kilo am Ende. Auf dem Metallplättchen stehen alle Namen mit Geburts- und Sterbejahren. Fünf von ihnen waren so alt wie ich oder jünger. Fünf von neun. Wir sind doch noch gar nicht dran, dachte ich. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber der überwiegende Teil?
Auf dem Rückweg durch den Wald fielen mir die Metallplättchen an den Bäumen erst auf. Das Eine und Andere sah ich mir näher an. Immer wieder tauchte das auf: viel zu früh gegangen.
Auch unsere Verstorbene ist keine Achtzig geworden. Aber sie sah ihre Enkel noch aufwachsen.
Wir saßen danach noch beim Inder zusammen, und es fühlte sich an wie eine Geburtstagsfeier.
Mein Körper brauchte den ganzen nächsten Tag zum Sortieren und Sammeln neuer Kräfte. Und zum Entscheiden: Wenn ich mal an der Reihe bin, dann bitte nicht so sparsam mit den Tagen. Ich hätte gern einen Extratag für diese Sache. So eine Erinnerung an einen doppelt belegten Tag ist nicht so einfach. Für mich jedenfalls. Auch wenn der Tod in diesem Fall eine Erlösung war. Traurig darf er dennoch sein.
Nun ruhe sie in Frieden, zusammen mit den acht Unbekannten, umarmt von den Wurzeln eines Baumes. Mit den Stimmen der Vögel am Tag, und hin und wieder kommt sicher ein Reh vorbei, lauscht, wackelt mit den Ohren und geht weiter.
Wie das Leben in uns.
Ein Gedanke zu „Fünf von Neun“
Liebe Andrea, sehr berührend und dem Spürsinn auf der Spur. Sei umarmt, herzlichst Petra