Wunder, unverhofft
Was für ein sonnig warmer Tag. Er geht zu Ende, wie auch das Jahr vergeht. Es ist dunkel geworden, und unser alter Kater, der beinahe zwanzig ist, liegt im dunklen Zimmer auf dem Bett, will nicht mehr fressen. Ohren und Nase so kühl. Traurig bin ich. Es heißt, wenn sich etwas in der Familie stark verändert, geht ein Haustier. Schon eine Weile war er mit Reisevorbereitungen beschäftigt, lag auf einem Handtuch auf den Küchenfliesen, wollte nichts mehr so richtig.
Vielleicht ist er aber auch nur krank und schafft es erneut.. Die Dinge entwickeln sich nie geradlinig, sagt der Physiker, und in diesen Wochen schon gar nicht, sage ich. Mitunter kommt einfach ein Wunder vorbei.
Wunde, Wunder.
Das Theaterstück gestern Abend hier in der Barther Boddenbühne war so ein Lichtpunkt. „Vater“, um die 80, dement, spürt zunehmend die Verdunkelung seines Gedächtnisses. Das Publikum konnte dank eines genialen Kunstgriffs des französischen Autors und Literaturprofessors Florian Zeller die Dinge aus Sicht des Kranken erleben. Wenn es, genau wie der Vater, die Tochter nicht wiedererkannte, weil eine andere Schauspielerin zum Teil übernahm. Das Stück hatte nicht nur Tiefe und eine tolle Musikauswahl als Zwischenstücke, es wurde auch mit sehr guter Besetzung gespielt. Vorpommersche Landesbühne. Unser Barther Intendant dabei. Kunstdurstig wie ein trockener Schwamm saugten die Barther das Geschehen auf der Bühne ein. Applaus. Viel.
Sowas Gutes gibt es hier. Novembertiefe.
Ursprünglich wollte ich gestern zu einer kleinen Goldhochzeitsfeier meiner Eltern nach Berlin fahren. Wegen Krankheit ausgefallen. Die bestellten Blumen hat die nette Floristin behalten, sie würde sie neu einbinden, sagte sie. Und im Theater, sitzend neben der Goethefee in ihrem hübschen wiederentdeckten Kleid, traf ich viele Bekannte, und eine sagte, ich sei doch schon so richtig angekommen in dieser kleinen Stadt.
Nun ja, das bin ich wohl.
Auch wenn das bedeutet, nicht nur freundlich gesinnte Theaterbesucher zu treffen, sondern auch Klatschobjekt und Projektionsfläche zu sein…
So trifft mein Vorhaben, Deutschkurse für Flüchtlinge zu geben, noch dazu in Barth, nicht in jedem Fall auf Gegenliebe. Da hört eine Ehrenamtlerin auf zu unterrichten. Eine andere will sich nicht die gut vorgebildeten Flüchtlinge von privaten Bildungsträgern „wegnehmen lassen“. Als gäbe es derzeit nicht genug für alle.
So viele wollen helfen, unterrichten, die VHS mit ihrer Fortbildung für uns Anfänger war mehr als voll, die Stimmung gut, Austauschen und Unterstützen, in fröhlicher Fahrgemeinschaft hin und wieder zurück, keine Angst, sagte die VHS Chefin, Sie können es nur gut machen.
Manchmal denke ich, diese erdrutschartige Situation der Flüchtlingsmassen legt neben unserer Hilf- und Machtlosigkeit auch etwas Machtvolles, Sinnstiftendes offen. Und sie fördert die tiefsten Schwächen genau wie die größten Stärken eines Jeden zutage. Eine Situation wie ein Spiegel. Auch ich muss schauen, dass ich jeden Tag neu offen bleibe, kreativ, handlungsfähig. Die eigene Unsicherheit trotzdem da sein lasse.
Im Fernsehen wechseln die Bilder immer schneller, wird jede Kameraführung immer wackliger. Ranzoomen, wegzoomen.. Mein Kopf will Klarheit, ich schalte immer öfter ab. Wichtige Informationen kommen auch so zu mir.
Der alte Kater schläft unten. Der junge ist anhänglich derzeit. Entweder liegt er neben dem alten Kater oder neben oder auf mir. Wo er sonst so ein Raufbold ist.
Die Goethefee wollte zum Kaffee vorbei kommen, meinen glutenfreien Zitronenkuchen essen, sie hat unverhofft Besuch bekommen. Ich hab geschrieben dann.
Alles anders dieser Tage.
Wunder kommen unverhofft.
Durch Seelenfenster, die offen sind.
A. Jennert