Nur noch das Herz..
Während hier in Barth der Tag des offenen Denkmals stattfand, wurde in Berlin beschlossen, bestimmte Grenzen zu schließen.
Während im Eingang der Kirche die Gesangbücher zum Gottesdienst von einer jungen syrischen Muslimin ausgegeben wurden – sie kommt jeden Sonntag den weiten Weg her gelaufen – bekommen die Flüchtlingsmassen in den südeuropäischen Lagern Wasserflaschen und Essen ins Gedränge geworfen wie bei einer Meute hungriger Hunde. Während sich Vertreter der Partnerkirchen aus aller Welt in Mecklenburg Vorpommern treffen und zu verschiedenen Gottesdiensten gehen – heute waren Gäste aus Indien und Estland hier – um näher zusammenarbeiten zu können, werden Polizisten aus ganz Deutschland abgezogen, sogar aus dem derzeitigen Hamburger Krisengebiet, und nach Süddeutschland gebracht, um die Grenze zu Österreich zu sichern. Während in der Barther Marienkirche der Buchdruck der Jahrhunderte alten Bücher nacherlebbar gemacht wurde, während in den gläsern abgetrennten Bibliotheksraum innerhalb der Kirche nicht mehr als fünf Menschen gleichzeitig Zutritt haben, damit die Bücherschätze in angemessener Feuchtigkeit gelagert bleiben, sind Millionen Menschen ohne Dokumente unterwegs Richtung Nordeuropa, auf engstem Raum, in Lagern, Zügen, Lastern, Bussen, Taxis, zu Fuß, ohne Duschen, mit wenig Kleidung, Essen, Trinken, ohne Sicherheiten, vor allem: ohne Stille. Ein wunderbarer Tag aus Nähe, Glauben, guter Nachricht – die junge Iranerin, die seit mehr als einem Jahr auf eine Antwort der Behörden wartete, bekam vor zwei Tagen den Bescheid, dass sie bleiben darf – ein Tag mit Musik, dem herrlichen Bläserchor, dem Barther Altorganisten, mit Singen, ein Tag der offenen Häuser, der offenen Vorträge in Kirche, Stadt, Garten, Museum, des offenen Umgangs mit Religionen. Ein Tag, an dem woanders die Tore wegen Überforderung und Überfüllung geschlossen wurden. Die Regierung ist nicht Jesus, der die Fünftausende mit ein paar Broten und Fischen speisen kann. Einer der sieben Syrer, die im August nach Barth kamen, hat schon einen vollen Job in Zingst. Verdient sein eigenes Brot. Ich habe beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Zulassung fürs Erteilen von Deutschkursen in der VHS gestellt. Die Vorschriften hätten sich gelockert, sagte die VHS-Chefin, es braucht keinen Abschluß für Deutsch als Fremdsprache mehr, es genügt, in der Erwachsenenbildung gearbeitet zu haben. Immerhin habe ich mal ein Diplom als Musik- und Deutschlehrerin gemacht. Und einen Abschluss als Klavierlehrerin. Doch weder dies noch meine fünfjährige Arbeit am Gymnasium waren bisher ausreichend für die Volkshochschule. Die Flüchtlinge werden oft von Nicht-Muttersprachlern unterrichtet. Ehrenamtlich kann ich natürlich sofort… Nach einer Woche ein Brief, maschinell erstellt, es wird mindestens sechs Wochen dauern, bis ich Nachricht bekomme, ob ich in der VHS bezahlten Unterricht mit Zertifikaten für Flüchtlinge geben kann. Die syrische Mutter sagte, alle Syrer glauben, Frau Merkel hat einen Plan, in Deutschland ist alles vorbereitet, perfekt organisiert, sonst würde die Regierungschefin doch nicht ….. Nein, sagte ich ihr, es gibt keinen Plan. Es gibt die Not der Flüchtlinge, und ein Plan muss erst entstehen jetzt. Das ist verrückt, sagte sie erschrocken. Deutschland hat den Verstand verloren, sagt der Engländer, man reagiert hier nur noch mit dem Herzen! Und das war als Kritik gemeint… Das ist die schönste Kritik, die Deutschland je bekommen hat: Nur noch das Herz.
Andrea Jennert |
3 Gedanken zu „Nur noch das Herz..“
Mit Herz und Verstand.
Ich freue mich, dass die junge Iranerin bleiben darf! Ich würde mich auch freuen, wenn Amine (weiß nicht ob dir das was sagt) aus Marokko auch bleiben könnte.
Nein nicht nur noch das Herz! Wir benötigen Herz mit Verstand, sonst endet das Ganze ungut, für die Flüchtlinge und für die Länder die sie aufnehmen.
Und die Zusammenarbeit der Kirchen mit anderen Religionen und nicht nur mit ihren Partnerkirchen ……? Ein Tag genügt da nicht.
Dennoch ist es schön, dass in Deutschland so viele mit dem Herzen handeln. Hoffentlich kein Strohfeuer!!!
Danke, Edda, für deinen Beitrag! Ich hoffe auf viel mehr Meinungen! Klar ist ein Tag nicht ausreichend, das Herz allein auch nicht. Ich denke allerdings, dass viele von uns angesichts dieser Situation weder realisiert noch analysiert haben, dass dies eventuell der Beginn einer großen Umwälzung der Werte- und Machtverhältnisse global ist, und dass wir unsere Hilflosigkeit und Angst diesbezüglich nicht wahrhaben wollen. Ich versuche zunächst, mit Beobachtungen und Verbindungen ziehen bzw leben, einen Weg für mich zu finden, mich in diesem Chaos aus Not, Überfluss, Sprachlosigkeit, Wut, Entsetzen, Mitgefühl,..zurechtzufinden. Der Verstand ist ein exzellentes Instrument. Nur wenn das Herz nicht der Kompass ist, ist der Weg kein menschlicher mehr..
Andrea
Anwort auf die schnelle: D’accord!